Buchbesprechung: Die Büchse der Pandora

Im Zusammenhang mit unserem Vortragsabend am 5. Mai „Österreich-Ungarn und der Kriegsausbruch 1914“ macht unser Mitglied Dr. Michael Vollert auf eine Buchbesprechung aufmerksam, die in der F.A.Z. / F.A.S erschien. Autor ist der Bielefelder Emeritus Hans Ulrich Wehler.

DIENSTAG, 06. MAI 2014 – FEUILLETON

Beginn einer neuen Epoche der Weltkriegsgeschichte

Christopher Clark, Herfried Münkler, schön und gut – aber das wichtigste Buch zum Ersten Weltkrieg legt Jörn Leonhard mit „Die Büchse der Pandora“ vor. Es ist unübertrefflich.


In der anschwellenden Flut von Literatur über den Ersten Weltkrieg, dessen Ausbruch vor hundert Jahren als Auftakt der „Urkatastrophe“ des zwanzigsten Jahrhunderts ins Gedächtnis gerufen wird, gibt es sehr unterschiedliche Leistungen und Tiefpunkte. Bisher bietet der in Cambridge lehrende australische Historiker Christopher Clark mit seinen „Schlafwandlern“, derzeit schon in der dreizehnten Auflage, eine lohnende Geschichte der internationalen Beziehungen vor dem Herbst 1914. Doch die Proportionen von Clarkes Text stimmen nicht. Hundert Seiten über Serbien und seine gefährliche Terrorismusszene folgen längere Kapitel über Frankreich, Russland und England, während ein eigener, ausführlicherer Teil über die Berliner Entscheidungsprozesse, deren Folgenreichtum bekannt ist, fehlt.

Man gewinnt den Eindruck, dass sich Clark partout von der Fischer-Kontroverse der sechziger Jahre so weit wie möglich distanzieren möchte. Zu dieser Position passt auch, dass er die methodisch immer lohnende Frage nach den „Non-Decisions“, nach den schwerwiegenden Folgen nicht getroffener Entscheidungen, nirgendwo konsequent verfolgt.

Wozu hätte eine aufrechte, auf Friedenswahrung abgestellte England-Politik Bethmann Hollwegs geführt? Wohin eine entschieden bremsende reichsdeutsche Politik? Warum konnten die beiden Balkankriege im Vorfeld von 1914 vom europäischen Staatensystem aufgefangen werden, während das mit dem dritten von deutscher Seite nicht ernsthaft versucht wurde?

Durch sein Vorgehen verwischt Clark verblüffend einseitig den massiven deutschen Verursachungsanteil an der fatalen Konstellation, die zum Krieg geführt hat. Dem beschönigenden Kommentar des englischen Politikers Lloyd George aus den zwanziger Jahren, alle Staaten seien letztlich in das Unheil „hineingeschlittert“, wird zielstrebig zu neuer Geltung verholfen. Und der Verkaufserfolg auf dem deutschen Büchermarkt – keineswegs auf dem englischen! – verrät ein tiefsitzendes, jetzt wieder hochgespültes apologetisches Bedürfnis, sich von jenen Schuldvorwürfen zu befreien, die in der Kontroverse um das Kriegszielbuch des Hamburger Historikers Fritz Fischer („Griff nach der Weltmacht“, 1961) allenthalben verfochten worden waren.

Das gleichzeitig erschienene Buch des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler wird der intensiven Debatte über den Weltkrieg nicht von ferne gerecht. Offenbar muss man sich mit der einen gewaltigen Umfang erreichenden Forschungsliteratur ganz anders vertraut machen. Übrigens ist die strenge Deutschland-Zentriertheit seines Buchs den weitgespannten globalen, vergleichenden Perspektiven von Leonhard krass unterlegen. Münklers penetrante Kritik an Fischer bezeugt zudem die Verständnislosigkeit, mit der er dessen Leistung begegnet, jahrelang mit imponierender Zivilcourage als einziger deutscher Neuzeithistoriker die Kritik an der Julikrise 1914 und an den Kriegszielplänen bis 1918 – sowie an den damals nur zu oft verschwiegenen Kontinuitätslinien bis 1945 – pointiert vertreten zu haben.

Doch glücklicherweise ist soeben die glänzende Analyse „Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs“des Freiburger Historikers Jörn Leonhard erschienen, die in einem umfangreichen Konvolut von 1150 Seiten ein wahrhaft umfassendes Panorama des Ersten Weltkriegs, seiner Vorgeschichte und seiner Ursachen, seines Verlaufs und seiner Folgen präsentiert. Alle Historiker wissen, dass sie das theoretische Ziel einer „Totalgeschichte“ wegen des ihnen nur vergönnten partiellen Erkenntnisgewinns nie erreichen können. Doch Leonhard kommt dieser totalgeschichtlichen Zielutopie erstaunlich nahe.

Der Freiburger Neuzeithistoriker war bisher mit zwei mächtigen Bänden über „Liberalismus“ und „Bellizismus“ hervorgetreten, die durch eine eigentümliche Mischung von moderner Ideen- und koselleckscher Begriffsgeschichte auffielen. Mit seinem Glanzstück zur Weltkriegsgeschichte hat er seine früheren Leistungen geradezu sprungartig weit übertroffen. Der Umfang des Buches verbietet eine Schritt für Schritt referierende Darstellung des Inhalts. Wohl aber können die auffallenden Vorzüge dieser Synthese knapp präsentiert werden.

An erster Stelle steht das scharf ausgeprägte Problembewusstsein des Verfassers, das ihn durchweg zu einer überzeugenden Problemorientierung seiner analytischen Fragen und seiner erklärungskräftigen Antworten anhält. Seine Methode, jeweils ein halbes Dutzend solcher Fragen aufzuwerfen und dann überzeugend zu erörtern, erleichtert dem Leser eine eingehende Auseinandersetzung mit der jeweils anstehenden Problematik.

Trotz dieses analytischen Duktus kommt die Ereignisgeschichte, und zwar in einem imponierenden globalen Umfang, keineswegs zu kurz. Sie wird aber eigentlich immer wieder durch eine vergleichende Argumentation gebändigt. Dadurch wird eine riesige Informationsfülle glänzend strukturiert, ob es um den immens wichtigen Beitrag der britischen Dominions zur englischen Kriegsleistung, die Bewältigung der Kriegskosten oder die Strapazen an der Heimatfront, die ausgedehnte Nachkriegsgeschichte in aller Welt geht. Wie viel plausibler wird jetzt der Erste Weltkrieg als Vorgeschichte und determinierende Kraft des Zweiten Weltkriegs begriffen!

Der „Weltkrieg“ schließlich, durchaus als globale Konflikthäufung verstanden, wird als eine Vielfalt von Problemen, die in anderen Gesamtdarstellungen überhaupt nicht oder nur selten punktuell zur Sprache kommen, kenntnisreich erörtert. Das reicht vom Mikrokosmos der Grabenwelt im Stellungskrieg über die Körpererfahrung an der Front und in der Heimat bis zur Schlachtenschilderung der Kämpfe bei Verdun und an der Somme mit ihren Hunderttausenden von Toten auf beiden Seiten. Das weite Ausgreifen wird durch ein durchweg überzeugendes Herausarbeiten der Gemeinsamkeit von Problemlagen in den kriegführenden Ländern, aber auch der gravierenden Unterschiede zwischen ihnen gewissermaßen diszipliniert.

Man kann den Autor nur bewundern, dass er diese methodische Ausrichtung so konsequent durchgehalten hat.

Die Sprache dieses riesigen Textes bleibt elastisch und stets begriffsscharf. Allenfalls hätte ein energischer Lektor eingreifen sollen, da die deutsche Sprache nun einmal vorbehaltlos den Singular liebt, keineswegs aber die ständigen Pluralformen, die als Anglizismen in das Gegenwartsdeutsch immer weiter eindringen. Die Anmerkungen entsprechen der Fülle der Urteile und Informationen; die Register erschließen den Text für suchende Leser; die Bibliographie ist ein kleines Meisterwerk für sich, da sie aus einer riesigen Literatur eine überzeugende Auswahl getroffen hat.

Kurzum, wir haben mit Jörn Leonhards imponierender Synthese ein theoretisch und methodisch höchsten Ansprüchen genügendes, durch seine Interpretationskunst, seine Vielseitigkeit und die Informationsdichte überzeugendes Werk gewonnen, das nicht zuletzt durch sein gerechtes Urteil überzeugt. Wird am Ende des Jahres 2014 eine Bilanz der Literaturschwemme zum Ersten Weltkrieg gezogen, wird Leonhard aller Wahrscheinlichkeit nach als einsamer Spitzenreiter aus diesem Wettbewerb hervorgehen, denn mit seiner Analyse beginnt eine neue Epoche der Weltkriegsgeschichte.

Hans-Ulrich Wehler

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